Käthe Schirmacher – Rückblick auf eine biographische Arbeit

von Anke Walzer-Mirwald

 

Mein Interesse an Leben und Werk Käthe Schirmachers war anfangs recht profaner Natur. Als Studentin an der Universität Oldenburg benötigte ich 1986 ein Thema für meine Examensarbeit im Fach Geschichte. Eine historische Biographie zu verfassen schien mir eine reizvolle Aufgabe zu sein. Die Anregung, dafür Käthe Schirmacher zu thematisieren, kam von Professor Dr. Klaus Saul, Fachbereich Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, der damals die Arbeit betreute.

Die Materialfülle und die komplexen Eindrücke hinsichtlich der Persönlichkeit Käthe Schirmachers führten schnell dazu, dass sich die Arbeit sozusagen „verselbstständigte“ und schließlich ein Text entstand, der – eher unbeabsichtigt – von Umfang und Anspruch her den Rahmen einer Examensarbeit deutlich sprengte. Prof. Saul regte daher an, die Arbeit zu veröffentlichen. Dieses Vorhaben konnte ich nach dem Abschluss meines Referendariats, unterstützt durch intensive inhaltliche Korrespondenz mit Prof. Dr. Annette Kuhn, in Angriff nehmen.

Die Arbeit mit dem Schirmacher-Nachlass in Rostock

Im Herbst 1989, etwa vier Wochen vor dem Fall der Mauer, reiste ich in die DDR, um Teile des Schirmacher-Nachlasses in Rostock zu sichten und in die geplante Publikation einzuarbeiten. Über private Kontakte konnte ich eine Unterkunft in Wismar organisieren, von wo aus ich über einen Zeitraum von zehn Tagen jeden Morgen mit dem PKW nach Rostock fuhr, um dort, so weit es die Öffnungszeiten der Universitätsbibliothek zuließen, am Nachlass zu arbeiten. Die geradezu elektrisch aufgeladene Aufbruchstimmung beschreiben zu wollen, die so kurz vor der „friedlichen Revolution“ in den beiden Städten herrschte, würde den Rahmen und die Intention dieses Beitrages überschreiten.

Der Schirmacher-Nachlass befand sich damals, noch etwa zur Hälfte ungeordnet, in einem Außenmagazin der Rostocker Universitätsbibliothek, das für Personen aus der BRD gesperrt war. Mit Hilfe einer Liste der bisher erfassten Materialien konnte ich eine Quellenauswahl angeben; eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität brachte mir dann morgens die jeweils gewünschten Ordner in den – beaufsichtigten – Lesesaal der Bibliothek; abends musste das Material wieder in das Außenmagazin zurück.

Nach meiner eher distanten Auseinandersetzung mit Käthe Schirmacher in Oldenburg war es ein besonderes Gefühl, die Originaldokumente in den Händen zu halten. In der ersten Arbeitswoche sichtete ich ihre Briefe an die Eltern von 1883 bis 1902, wobei es sich um 20 Aktenordner mit jeweils 40 bis 50 Briefen aus dem In- und Ausland handelte. Danach beschäftigte ich mich mit ihren Korrespondenzen mit Otto Münsterberg, Klara Schleker, Carrie Chapman-Catt und zahlreichen Briefen, die von völkischen Kampfverbänden, antisemitischen Zeitschriftenverlegern, dem DNVP-Abgeordneten Alfred Hugenberg und österreichischen Nationalsozialisten an Käthe Schirmacher gerichtet worden waren. Schließlich nahm ich noch Einsicht in ihr letztes Tagebuch von 1929/30.

Der umfangreichen Privatkorrespondenz konnte ich spannende und wertvolle neue Informationen und Eindrücke hinsichtlich der Persönlichkeit Käthe Schirmachers entnehmen, beispielsweise über ihren Streit mit Familie Rickert, ihre Empörung über die Behandlung, der sie sich in Thüringen als Privatlehrerin ausgesetzt fühlte, oder über ihre Beziehungen zu wechselnden Freundinnen, mit denen sie in häuslichen Gemeinschaften lebte. Bemerkenswerterweise veränderte sich auch ihre Handschrift im Laufe ihres Lebens mindestens zweimal deutlich. Von den Quellen, die mir in Hinblick auf meine Publikation wichtig erschienen, fertigte ich in Rostock Abschriften an, um diese zu Hause später in die jeweiligen Themenbereiche einzuarbeiten.

Ursprüngliche Intentionen und heutige Perspektive

Käthe Schirmacher war eine äußerst aktive und vielseitig tätige Journalistin, Buchautorin und politisch engagierte Frau. Das Ziel meiner Arbeit bestand im wesentlichen in dem Versuch, ihr persönliches Leben und ihre Tätigkeiten in Verstrickung mit den jeweiligen historischen Rahmenbedingungen sichtbar zu machen, einen Eindruck hinsichtlich ihres Charakters zu erhalten und insbesondere auch die Ursachen und Konsequenzen ihres politischen Einstellungswandels zu ergründen.

Es versteht sich von selbst, dass ein solches Unterfangen in Teilaspekten lückenhaft bis anfechtbar bleiben muss und lediglich eine von vielen möglichen Herangehensweisen an das umfangreiche Quellenmaterial und die vielen Tätigkeitsfelder Schirmachers darstellt. Auch die von mir verwendete Sekundärliteratur erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, so fehlen Frevert, Meiners u.v.m..

Auf formaler Ebene schimmert die ursprüngliche Examensarbeit in Gestalt einer gewissen „Belegwut“ durch, die an einigen Stellen die Lesbarkeit beeinträchtigt. Auch die pedantischen Hervorhebungen der vom heutigen Standard abweichenden Rechtschreibung Käthe Schirmachers stören mich rückblickend.

Inhaltlich halte ich einige meiner Thesen bezüglich Schirmachers Kindheit und früher Jugend, insbesondere deren Bezug auf ihren späteren Rechtsruck, aus heutiger Sicht doch für etwas gewagt und spekulativ. Sie sind zwar bereits in der Publikation als Vermutungen kenntlich gemacht worden, schienen mir aber mitten in der Arbeitsphase plausibler zu sein als jetzt, mit der zeitlichen Distanz eines Vierteljahrhunderts. Auch ich war damals unwillkürlich in einen gewissen Forschungskontext zur „Frauengeschichte als Geschichte von Unterdrückung“ eingebunden, der mittlerweile komplexer und vielschichtiger geworden ist.

Erwiesen und auch durch die Rostocker Quellen bestätigt scheint mir hingegen der vielleicht nicht ausschlaggebende, aber doch große Einfluss Henri Chastenets auf Käthe Schirmachers politischen Richtungswechsel, auch wenn diese Aussage in einer feministisch orientierten Buchrezension von 1992 als „sexistisch“ bewertet wurde. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass emotionale Erlebnisse und Bindungen die Beeinflussbarkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen erhöhen – meiner Meinung nach ganz unabhängig davon, innerhalb welcher Geschlechterkonstellation sie existieren.

Unterschätzt habe ich aus heutiger Sicht möglicherweise den Einfluss des damaligen gesellschaftlichen Klimas auf ihre Entwicklung zur konservativen Nationalistin.

Denn ähnlich wie Käthe Schirmacher zu Beginn des 20. Jahrhunderts befinden wir uns gegenwärtig ebenfalls in einer Phase gesellschaftlicher Irritationen und Umwälzungen. Weltweite kriegerische Auseinandersetzungen und damit verbundene Migrationsbewegungen, Terrorismus, Finanzkrisen, aber auch die rasant voranschreitende digitale Revolution mit ihren neuen Formen der Informationsübermittlung und Meinungsmanipulation haben in den letzten Jahren zu einem wachsenden Gefühl der Bedrohung und Verunsicherung innerhalb der europäischen Bevölkerung geführt. Mit diesen Strömungen geht auch heute eine Zunahme irrationalistischer Geisteshaltungen und antidemokratischer Tendenzen einher. Die politisch im rechten Spektrum radikalisierte und aggressiv nationalistische Käthe Schirmacher hätte vermutlich im gegenwärtigen Europa eine erschreckend große Zuhörerschaft. Es macht sie nicht unbedingt sympathisch, scheint aber ein menschliches Stereotyp zu sein, auf die echte oder vermeintliche Bedrohung von Sicherheit, Wohlstand und Identität mit zunehmender Konservativität, Radikalisierung und Aggression zu reagieren.

Käthe Schirmachers Aussagen und Aktivitäten als Frauenrechtlerin haben mich beeindruckt und für frauenspezifische Ungerechtigkeiten und Problemstellungen sensibilisiert. Aktuelle geschlechterpolitische Themen lassen mich auch heute noch häufig an sie denken und mich fragen, wie ihre Kommentare zu bestimmten Entwicklungen oder Entscheidungen wohl gewesen wären. Solange beispielsweise Kinder auch in wohlhabenden Ländern für Frauen immer noch ein Armutsrisiko bedeuten oder immer noch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Entlohnung gleicher Arbeit existieren, besteht dazu leider noch häufig Gelegenheit.

Meine intensive Auseinandersetzung mit Käthe Schirmacher führte im Verlauf der Arbeit zu einem eigentümlichen, sehr zwiespältigen und gewiss nicht rationalen Gefühl von „Nähe“ zu ihr, damit verbunden auch zu dem starken Bedürfnis, ihrer Persönlichkeit gerecht werden zu wollen und keine falschen Aussagen über sie zu treffen. Dies war neben den zuvor genannten Zielsetzungen eine Hauptmotivation und ein Grund für den Umfang der Arbeit.

Kommentar zum Buchausschnitt

Einen ersten Zugang zur Persönlichkeit und zum Lebenslauf Käthe Schirmachers lieferte mir ihre 1920 verfasste Autobiographie „Flammen. Erinnerungen aus meinem Leben“. Weitere Informationen fanden sich in der 1936 erschienenen Biographie „Die unbequeme Frau – Käthe Schirmacher im Kampf für die Freiheit der Frau und die Freiheit der Nation 1865-1930“ von Hanna Krüger. Beide Werke waren mit quellenkritischer Vorsicht zu benutzen, bildeten aber chronologisch den „roten Faden“ für meine eigene Darstellung.

Parallel dazu erläuterte ich mit Hilfe entsprechender Sekundärliteratur den historischen Kontext der entsprechenden Lebensabschnitte und jeweiligen thematischen Aspekte. Eine weitere Arbeitsparallele bildeten verschiedene Quellengruppen, darunter insbesondere das Material aus dem Schirmacher-Nachlass, aber auch Aussagen Käthe Schirmachers in ihren Büchern, Studien, Aufsätzen, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, oder Aussagen über sie, beispielsweise in einigen Nachrufen. Diese Quellen dienten als zusätzliche Informationen, als Veranschaulichung und Illustration bestimmter Charaktereigenschaften, Lebenssituationen oder Einstellungen Käthe Schirmachers, natürlich aber auch zur Absicherung meiner aufgestellten Arbeitshypothesen und Interpretationen.

Eine an chronologischen Lebensdaten Käthe Schirmachers orientierte Vorgehensweise schien mir angebracht, da so bestimmte Entwicklungen und Veränderungen in ihrer Persönlichkeit im Kontext der historischen Rahmenbedingungen besser zum Vorschein kommen als dies in einer nach Arbeits- und Lebensbereichen getrennt strukturierten Darstellung der Fall gewesen wäre.


Zitierempfehlung:

Anke Walzer-Mirwald, Käthe Schirmacher – Rückblick auf eine biographische Arbeit, in: Die vielen Biographien der Käthe Schirmacher – eine virtuelle Konferenz, URL: http://schirmacherproject.univie.ac.at/die-vielen-biographien-der-kaethe-schirmacher/statements/anke-walzer-mirwald/

 

Readertext

Anke Walzer, Die politische „Sonnenwende“: Hinwendung zum konservativen Nationalismus ab 1904, in: Dies., Käthe Schirmacher. Eine deutsche Frauenrechtlerin auf dem Weg vom Liberalismus zum konservativen Nationalismus. Pfaffenweiler 1991, 55–77.

// Verweise zu Publikationen der Statement-Autor_innen zu Käthe Schirmacher finden sich unter Literatur. //

Biographische Notiz

Anke Walzer, seit 1991 Walzer-Mirwald, wurde 1962 in Bremen geboren. Von 1983 bis 1987 studierte sie Deutsch, Geschichte und Sozialkunde an der Universität Oldenburg und schloss ihre Ausbildung zur Lehrerin 1988 mit dem Zweiten Staatsexamen ab. Basierend auf ihrer ersten Examensarbeit arbeitete sie anschließend an ihrer Publikation über Käthe Schirmacher. Nach mehrjähriger Berufstätigkeit in der Erwachsenenbildung ist sie seit 1994 Lehrerin an einer niedersächsischen Grundschule. Nebenbei war sie etwa zwei Jahrzehnte als Schulbuchautorin tätig.