Die Bedeutung Käthe Schirmachers für die internationale abolitionistische Bewegung

von Bettina Kretzschmar

 

Käthe Schirmacher begegnete mir im Rahmen meiner Forschungen über die Bewegung zur Abschaffung der staatlichen Überwachung der Prostitution als gut vernetzte, selbständige und sehr aktive Frauenrechtlerin um 1900.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts flammte europaweit eine Debatte über Prostitution auf. Napoleon hatte Ende des 18. Jahrhunderts zum Schutze seiner Soldaten vor sich ausbreitenden Geschlechtskrankheiten das System der staatlichen und medizinischen Überwachung (Reglementierung) der Prostitution eingeführt, welches schnell in anderen Ländern und auch für die Zivilbevölkerung übernommen wurde. England war das erste Land, in dem es bei Einführung einer ähnlichen Gesetzgebung 1864 zu größeren Protesten kam. Eine Gruppe aus Liberalen und FrauenrechtlerInnen gründete unter Anleitung von Josephine Butler 1875 die Internationale Abolitionistische Föderation (IAF). Die IAF setzte sich fortan weltweit für die Abschaffung der Reglementierung der Prostitution ein und forderte „nicht nur gleiche Moral, sondern auch gleiches Gesetz für Mann und Weib“.[1]

Die stark feministisch geprägte Argumentation bot viele Anknüpfungspunkte für die Frauenbewegung. Der abolitionistische Ansatz interpretierte das männliche Sexualverhalten als Demonstration männlicher Macht über die Frau: Männer hatten die Oberhand über die Frauen als „Angehörige des politisch rechtlosen Geschlechts“[2]. Besonders kritisch zeigte sich dieses Ungleichgewicht in der öffentlichen Moral und in der Prostitution. Die abolitionistische Bewegung begann dieses Machtverhältnis öffentlich zu kritisieren und forderte nicht nur sexuelle Selbstbeherrschung der Männer, sondern auch die Achtung der Frauenwürde und mit der Forderung nach gleichem Recht und Moral auch Macht und Stärke.

Die Bewegung fand schnell Unterstützung in verschiedenen europäischen Ländern. In Deutschland dauerte es bis 1899, bis der Abolitionismus nachhaltig fruchtbaren Boden fand. Käthe Schirmacher war eine der ersten deutschen Frauenrechtlerinnen, welche für die abolitionistische Bewegung aktiv wurde. Sie griff das Gedankengut auf und kritisierte die ungleiche Moral für Männer und Frauen, die sich in der Öffentlichkeit und besonders bei der Prostitution manifestierte.[3] Denn Frauen zogen schon durch das Bewegen in der Öffentlichkeit ohne männliche Begleitung den Verdacht „unmoralischer oder unsittlicher Beweggründe“[4] auf sich. Käthe Schirmacher stellte dazu bereits 1895 fest: „Wenn in unsrer heutigen Gesellschaft eine Frau an einem öffentlichen Ort still sitzt, oder steht und wartet, so glaubt ihr selten einer, dass sie dazu sachliche Gründe hat, sondern man nimmt meist an, sie suche Abenteuer oder Rendez-vous.“[5]

Schirmacher hatte zwischen 1895 und 1910 ihren Wohnsitz in Paris[6] und lernte dort auf dem internationalen Frauenkongress 1895 nicht nur zahlreiche FrauenrechtlerInnen kennen, die sie zum Teil bald zu ihren Freunden zählte, sondern kam auch erstmals in Kontakt mit der abolitionistischen Bewegung. Sie trat sogleich dem französischen Zweig der IAF bei und knüpfte zu zahlreichen AktivistInnen der IAF Kontakte,[7] u.a. Camille Vidart, Emma Pieczynska, Auguste de Morsier und Alfred Meuron. Zugleich blieb sie aktiv in der radikalen deutschen Frauenbewegung, wodurch sie eine wichtige Rolle bei der internationalen Vernetzung und beim Ideentransfer des Abolitionismus nach Deutschland einnahm.

Den Auftakt zu diesem Ideentransfer stellte der Kongress der IAF 1898 in London dar, zu dem Butler neben der deutschen Frauenrechtlerin Minna Cauer auch Käthe Schirmacher einlud.[8] Da Cauer nur inoffiziell und nicht im Namen ihres Vereins Frauenwohl zum Kongress reiste, weil ihr Verein in der Frage der Reglementierung nicht einstimmig war, hoffte Butler besonders auf Schirmachers Erscheinen. Ab hier übernahm Schirmacher fast immer eine Art „Doppelfunktion“ in der abolitionistischen Bewegung: einmal als Vertreterin des französischen Zweiges und dann auch als Vermittlerin in das bisher für die IAF weitgehend unerschlossene Deutschland. Sowohl Cauer als auch Schirmacher trugen das auf dem Kongress gewonnene Wissen über ihre persönlichen Netzwerke und durch Publikationen in Zeitschriften der Frauenbewegung weiter.[9] Kurze Zeit später folgte 1899 die Gründung der ersten deutschen Zweigvereine in Berlin und Hamburg.

Obwohl Schirmacher bis 1910 ihren Wohnsitz in Paris hatte, war sie in dieser Zeit auch in der deutschen abolitionistischen Bewegung aktiv. Sie vertrat dabei häufig die Argumentationslinie des internationalen Dachverbandes. Beispielsweise setzte sie sich für die Meinung der Minderheit im deutschen Zweig ein, dass man sich in der Vereinsaktivität auf die Propagandaarbeit und Kampf gegen die Reglementierung beschränken solle und nicht die soziale Arbeit mit ins Programm aufnehmen solle.[10] Auch bei der Frage der ärztlichen Anzeigepflicht stand Schirmacher auf der Seite der IAF und konnte die führende deutsche Abolitionistin Anna Pappritz zunächst von der praktischen Unausführbarkeit derselben überzeugen.[11]

Aus den Korrespondenzen mit Pappritz wird jedoch ersichtlich, dass Schirmacher sich aus den Streitigkeiten zwischen den Radikalen und den Gemäßigten sowohl in der Frauenbewegung als auch im deutschen Zweig der IAF gut heraushalten konnte.[12] Dies war vermutlich bedingt durch ihre räumliche Abwesenheit. Schirmacher nutzte vielmehr den Kontakt zu Pappritz, um im Bund Deutscher Frauenvereine Gehör zu finden und im Gegenzug nutzte Pappritz den Einfluss Schirmachers in die französische und internationale abolitionistische Bewegung, um den deutschen Standpunkt zu erklären: In einem Brief an Schirmacher geht Pappritz darauf ein, Schirmacher „den Ausländern einmal klar machen [könne], mit was für Schwierigkeiten“[13] man in Deutschland zu kämpfen habe.

Denn Schirmacher fungierte in Sitzungen der IAF häufig als Delegierte des deutschen Zweiges und setze sich hier für dessen Belange ein. Die Teilnahme der deutschen AktivistInnen in der Geschäftsführung der IAF war bedingt durch die Entfernung sehr begrenzt. Schirmacher spielte darum nicht nur für die IAF, sondern auch für den deutschen Zweig eine wichtige Rolle als Vermittlerin. Beispielsweise drückte sie in einer Vorstandssitzung am 28.05.1901 ihre Vorbehalte gegenüber Artikel 13 der Statuten aus, nach dem die Zweigvereine mindestens ein Viertel ihrer Mitgliederbeiträge an die IAF entrichten sollten und konstatierte, dass die deutschen Gruppen dazu ihrer Meinung nach nicht in der Lage seien.[14] Auch im Streit um die Anstellung einer deutschen Ärztin bei der Berliner Sittenpolizei auf dem 25. Kongress der IAF vertrat Schirmacher klar die deutsche Position.[15]

Schirmacher vermittelte also in ihrer abolitionistisch aktiven Zeit bevor sie sich stärker dem Nationalismus zuwandte immer zwischen der Zentrale der IAF und dem deutschen Zweig, da sie mit beiden Seiten in regelmäßigem Kontakt stand und sowohl im deutschen Reich, als auch in der Schweiz und in Frankreich regelmäßig Vorträge hielt.[16] Sie befragte beispielsweise Pappritz nach den deutschen Vertretern im Exekutivausschuss der IAF oder bat um Kontaktadressen.[17] Andersherum berichtete sie in den französischen und internationalen Zeitschriften der IAF über die Entwicklungen der abolitionistischen Bewegung in Deutschland und besprach Schriften deutscher Abolitionistinnen.[18]

Darüber hinaus zählte Schirmacher zu den aktivsten PropagandistInnen der IAF: Sie veranlasste 1903 im Auftrag der IAF die Gründung zweier abolitionistischer Vereine und betrieb 1906 im Osten Europas aktive Propaganda.[19] Hilfreich war ihr dabei ihr Netzwerk, welches sie sich in der IAF und in der Frauenbewegung aufgebaut hatte. Sehr informativ dazu sind die Korrespondenzen in ihrem Nachlass, die darüber Aufschluss geben, dass sich die Arbeitsgebiete der Frauenbewegung und der abolitionistischen Bewegung häufig überschnitten und dass die Vernetzung auch über die reine Arbeit hinausging.[20] Die untersuchten Quellen zeigen, dass ein kleiner Kreis charismatischer Führungspersönlichkeiten in Form informeller Beziehungen und persönlicher Kontakte über nationale Grenzen hinweg kommunizierte. Dadurch trugen sie nicht nur zu einem Ideentransfer bei, sondern maßgeblich auch zur Stabilisierung der Beziehungen zwischen der IAF als Dachorganisation und den einzelnen nationalen Zweigen.[21]


[1] A[nna] Pappritz, die Fédération abolitioniste internationale und die Sittlichkeitsfrage, in: Der Volkserzieher 2 (1898) 48/49, 377-379 und 386-387, 386.

[2] Käthe Schirmacher, Der Stand des Abolitionismus in Deutschland, in: Königsberger Zeitung vom 19.3.1905.

[3] Käthe Schirmacher, Frauenachtung, in: Mutterschutz 1/8 (1905), 347-358.

[4] Frankziska Roller, Flaneurinnen, Straßenmädchen, Bürgerinnen. Öffentlicher Raum und gesellschaftliche Teilhabe von Frauen, in: Margarete Hubarth, Hg., Geschlechter-Räume. Konstruktionen von „gender“ in der Geschichte, Literatur und Alltag, Köln u.a. 2001, 251-265, 257.

[5] Käthe Schirmacher, Gesellschaftliche Schranken. Bazar. 4. November 1895, in: Dies., Sociales Leben. Zur Frauenfrage, Paris/Leipzig 1897, 117-125, 123.

[6] Käthe Schirmacher, Flammen: Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1921, 37.

[7] „Diesem Frauenkongreß verdanke ich jedoch einen Teil meiner wertvollsten Pariser Freunde und Bekannten, so die Beziehungen zur französischen internationalen Sittlichkeitsbewegung, die mich mit Genf in lebhaften Verkehr setzten, zum Musée Social, dem Mittelpunkt französischer Sozialpolitik…“ Käthe Schirmacher, Flammen: Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1921, 32 f.

[8] Josephine E. Butler an Käthe Schirmacher, London, 28.05.[1898], Nachlass Käthe Schirmacher 31/009.

[9] Vgl. u.a. Minna Cauer, Der internationale Kongreß der britischen, kontinentalen und allgemeinen Föderation in London vom 12.-15. Juli 1898, in: Die Frauenbewegung 4/15 (1898), 163-165; Käthe Schirmacher, Der internationale Sittlichkeitskongreß in London, in: Neue Bahnen 33/16 (1898), 169-171.

[10] Die Mehrheit der deutschen AbolitionistInnen hingegen begann spätestens ab 1904 die Wohlfahrtspflege als weiteren Arbeitsschwerpunkt aufzunehmen. Hiermit stand der deutsche Zweig in starkem Kontrast zu den abolitionistischen Zweigen in den anderen europäischen Ländern, vgl. Eingesandt. Ist es die Aufgabe der deutschen Zweigvereine der internationalen Föderation, Wohlfahrtspflege zu treiben?, in: Der Abolitionist 3/8 (1904), 91.

[11] Anna Pappritz, Die Sitzungen des Exekutiv-Komitees der Internationalen Föderation zu Parisam 14. und 15. Juni 1900, in: Fb 6/13 (1900), 98-99, 99; Dies.: Wie ich zu meiner Arbeit kam, Berlin 1908, Nachlass Anna Pappritz, Helene Lange Archiv B Rep. 235-13, MF 3429-3433, 47 f. 

[12] Vgl. hierzu die Briefwechsel von Schirmacher mit Pappritz (002/002 und 021, 004/004-007, 619/005-006, 845/010-016) und Anita Augspurg (12/004-008, 618/004, 619/001-007) im Nachlass von Käthe Schirmacher.

[13] Pappritz an Schirmacher am 18.10.1902, Nachlass Schirmacher, Dok-Nr. 4852, 845/010-018.

[14] Vgl. Comité exécutif, Protokoll vom 28.05.1901, Women’s Library, 3HJW/E/4 Federation File 6 1901-1904.

[15] ”Le Congrès abolitionniste de la Réglementation de la Prostitution” 2e Journée, in: Le Quotidien, Lyon 30.5.1901, Bibliothèque de Gèneve, Coupures de journaux 1901, 111-113; Käthe Schirmacher, Der 25. Congress der Fédération Abolitionniste Internationale, Lyon den 29. Mai bis 2. Juni, in: Dokumente der Frauen 5/6 (1901), 192-199. 

[16] Schirmacher, Flammen, 54.

[17] Pappritz an Schirmacher, Berlin, 08.06.1901 und 21.10.[1902], Nachlass Schirmacher 004/007 und 845/010.

[18] Pappritz an Schirmacher, Berlin, 18.10.1902, Nachlass Schirmacher 845/011.

[19] Vgl. u.a. Käthe Schirmacher, Generalversammlung der Internationalen Föderation in London am 25. Mai 1903, in: Die Frauenbewegung 9/12 (1903), 90-91, 91; Dies.: Meine Propagandareise in Osteuropa, in: Abo 6/4 (1907), 32-37, 32.

[20] Schirmacher bat beispielsweise Auguste de Morsier (1864-1923), den Generalsekretär des französischen Zweiges und Mitglied des IAF-Vorstandes, um seine Meinung zu einem ihrer Dramen sowie um Hilfe bei der Veröffentlichung, vgl. Briefe von A. de Morsier an Schirmacher zwischen April und August 1905 und vom 24.08.1906, Nachlass Käthe Schirmacher 845/035-042 und 845/044. Vgl. auch die Korrespondenzen mit Camille Vidart, Emma Pieczynska, Alfred de Meuron, Katharina Scheven, Anna Pappritz u.a.

[21] Vgl. Bettina Kretzschmar, „Gleiche Moral und gleiches Recht für Mann und Frau“. Der deutsche Zweig der Internationalen abolitionistischen Bewegung (1899-1933), Sulzbach/Taunus 2014, Kapitel IV.2.4.2.


Zitierempfehlung:

Bettina Kretzschmar, Die Bedeutung Käthe Schirmachers für die internationale abolitionistische Bewegung, in: Die vielen Biographien der Käthe Schirmacher – eine virtuelle Konferenz, URL: http://schirmacherproject.univie.ac.at/die-vielen-biographien-der-kaethe-schirmacher/statements/bettina-kretzschmar/

// Verweise zu Publikationen der Statement-Autor_innen zu Käthe Schirmacher finden sich unter Literatur. //

Biographische Notiz

Bettina Kretzschmar, geboren 1979, studierte Geschichte und Soziologie in München und Hamburg und promovierte 2012 in Geschichte. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am historischen Institut in Hamburg und ist heute in der Gleichstellungsarbeit mit Schwerpunkt auf Familienpolitik tätig. Parallel hierzu arbeitet sie als freie Historikerin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Frauen- und Geschlechtergeschichte, historische Sozialforschung, Vereins- und Unternehmensgeschichte und Biographieforschung.