Interesse und Abwehr: Forschungsfragen zu Käthe Schirmacher

von Kirsten Heinsohn

 

Das erste Mal tauchte die Frauenrechtlerin Käthe Schirmacher in meinen Forschungen auf, als ich über das vielfältige Frauenvereinswesen im Stadtstaat Hamburg arbeitete.[1] Die radikalen Teile der Hamburger Frauenbewegung planten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Reformschule für Mädchen, die auch den Abschluss des Abiturs ermöglichen sollte. Käthe Schirmacher war ursprünglich für die Leitung der privaten Schule vorgesehen, doch konnte sie aufgrund von formalen Hindernissen diese Position nicht übernehmen – ihr fehlte eine fünfjährige Lehrtätigkeit. Schirmacher war zu diesem Zeitpunkt – 1900/1901 – schon eine bekannte Frauenrechtlerin und Publizistin, die an vielen Orten im Deutschen Reich und in Europa Vorträge zu unterschiedlichen, oft brisanten Themen, wie etwa der Abschaffung der Reglementierung von Prostitution, hielt.[2] Im Hamburger Kontext spielte ihr Name danach nur noch als (potentielle) Referentin eine Rolle und als Mitbegründerin des „Deutschen Vereins für Frauenstimmrecht“, der aus vereinsrechtlichen Gründen am 1.2.1902 in Hamburg gegründet wurde, aber im ganzen Deutschen Reich aktiv war. Für meine weitere Auseinandersetzung mit der Hamburger Frauenbewegung stand Schirmacher als politische Person daher nicht weiter im Vordergrund; mein Interesse war eher an Persönlichkeiten wie der national-liberalen Helene Bonfort oder der radikal-demokratischen Lida Gustava Heymann orientiert oder auch an der zuerst radikalen, später völkisch-nationalistisch agierenden Martha Zietz[3] (später: Voß-Zietz). Zietz und Schirmacher legten einen vergleichbaren politischen Weg zurück: Sie engagierten sich zunächst im Vereinsspektrum der radikalen Frauenbewegung, bevor sie dann in das nationalistische-völkische Lager wechselten, dort aber weiterhin ihre frauenrechtlerischen Positionen vertraten. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede zwischen den beiden Frauen: Während Schirmacher ihren Lagerwechsel schon „zwischen 1900 und 1906“ vollzog, also noch während sie Mitglied in verschiedenen radikalen Frauenvereinen war, entschied sich Voß-Zietz während des Ersten Weltkrieges für diesen Schritt, als sie 1917 in die nationalistische Deutsche Vaterlandspartei eintrat und 1918 – wie auch Schirmacher – zu den Mitbegründerinnen der Deutschnationalen Volkspartei gehörte. Schirmacher war nach eigener Aussage während ihrer Auslandsaufenthalte, vor allem in Paris, zu ihrem neuen politischen Credo des Nationalismus gekommen, aber Voß-Zietz teilte diese Erfahrungen nicht: Sie siedelte lediglich von Hamburg in die Nähe von Lübeck über und engagierte sich weiter im Bund Deutscher Frauenvereine bzw. als Vorsitzende des „Reichsverbandes Deutscher Hausfrauenvereine“. Die letztgenannte Tätigkeit musste sie 1920 aufgeben, da der Reichsverband seine politische Neutralität aufgrund der völkischen Agitation von Voß-Zietz als gefährdet ansah. Beide Frauen kamen politisch nach dem Ersten Weltkrieg also zur gleichen Deutung: Die deutsche Gesellschaft sollte völkisch und bewusst nationalistisch erzogen bzw. aufgebaut werden, um die deutsche Nation, das Deutsche Reich, (wieder) in eine hegemoniale Stellung in Europa zu bringen. Männer und Frauen sollten diese Aufgabe gemeinsam bearbeiten, aber auf unterschiedlichen Gebieten. Diese völkische Geschlechterordnung baute auf der zentralen Kategorie der Rasse auf und erst von hier aus wurde dann auch eine Differenz oder eine Gleichheit der Geschlechter formuliert.[4]

Für die Frauen- und Geschlechterforschung sind diese beiden biographischen Beispiele stets eine Herausforderung gewesen: Wie erklären wir diese extremen politischen Wechsel? Abschließende Antworten stehen nach wie vor noch aus, aber es gibt erste Thesen: So hat Johanna Gehmacher zuletzt am Beispiel von Schirmacher und der Britin Maud Gonne die Ausschlüsse von Frauen aus Politik und ihre gesellschaftliche Marginalisierung als Motiv für die Orientierung am übergeordneten Leitbild der Nation ausgemacht. Die politischen „Nicht-Orte“ für Frauen wurden symbolisch mit dem Einsatz für die Nation gefüllt.[5] Schirmacher selbst nannte ihre Auslandserfahrungen als Anlass und einige Autor_innen folgen ihr in dieser Interpretation.[6] Anke Walzer ordnet die Wende Schirmachers zudem auch in eine allgemeine konservative Wende in Europa ein, bei Schirmacher verstärkt durch eine wichtige persönliche Beziehung zu einem konservativen und antisemitisch denkenden Mann in Paris. Zudem sei die Persönlichkeit Schirmachers grundsätzlich eher dem Radikalismus im Denken zugeneigt gewesen.[7] Liliane Crips interpretiert den ideologischen Wandel dagegen eher werkimmanent und weist dabei dem 1906 erschienenen Buch von Schirmacher zum deutsch-französischen Verhältnis eine zentrale Bedeutung zu.[8] Dieses Buch sei eine Art Scharnier zwischen den „alten“, liberal orientierten Ideen Schirmachers und ihren „neuen“, nationalistischen und zunehmend rassistischen Grundsätzen.[9] Weitere genaue Werkanalysen und Vergleiche mit anderen Personen, die radikale Positionswechsel von links nach rechts vollzogen haben, werden diese Thesen sicherlich noch verfeinern und ergänzen.

Ich selbst habe mich in meinen weiteren Forschungen weniger auf Frauenbiographien konzentriert, sondern mehr nach gemeinsamen kulturellen Deutungsmustern (Karl Rohe), Denkstilen (Ludwik Fleck) und gedachten Ordnungen (Emerich K. Francis) in konservativen und völkischen Frauengruppen gesucht. Aus dieser Perspektive bin ich inzwischen zu der Ansicht gelangt, dass es vorrangig die internen Polarisierungen in der deutschen Gesellschaft während des Ersten Weltkrieges waren, die zu einer deutlichen Hinwendung einiger prominenter Vertreterinnen der Frauenbewegung nach rechts geführt haben; in diesem Kontext war es vor allem die Auseinandersetzung mit dem demokratischen und gleichen Stimmrecht, das polarisierend wirkte.[10] Aber auch aus dieser Perspektive bleibt Käthe Schirmacher eine Ausnahmefigur, denn sie vollzog ihre „Wetterwende“ schon lange vor dem Ersten Weltkrieg, ja tatsächlich nutzte sie die Zeit des Krieges, um neue Mitstreiterinnen zu finden und Themenkomplexe zu besetzen. Eine gemeinsame Diskursfigur im nationalen Lager war seit 1917 mit der „deutschen Frau“ als Gegenbegriff zur liberal und international orientierten Frauenbewegung entstanden. Schirmacher hatte ähnliches schon vor 1914 gedacht und bewegte sich in diesen Denkbewegungen begrifflich seit 1904 zum Denkstil des Nationalen hin und von dort weiter zum völkischen. 1912 zum Beispiel hatte sie ihren Vortrag „Was ist national?“ aus dem Jahr 1911 publiziert. Dort schrieb sie: „Was ist national erhält somit die Antwort: Was dem Lande nützt. Wer aber ist national? Der es erkennt.“[11] 1917 spitzte sie ihre Überlegungen dann nochmals zu, diesmal unter dem Titel: „Völkische Frauenpflichten“: „ Für uns gibt es nichts Höheres, Besseres als das Deutschtum, nichts Schädlicheres, Fremderes als weltbürgerlich, unvölkische Gesinnung, internationale Verschwommenheit.“[12] Aus diesem Credo leitete sie dann die jeweiligen „völkischen Pflichten“ für Frauen ab, d.h. sie zeigte auf, wie eine völkische Geschlechterordnung im Detail gelebt werden sollte.

Aus heutiger Sicht ist für mich noch deutlicher erkennbar, wie stark Käthe Schirmacher den Diskurs und den Denkstil der völkischen Frauenbewegung mit ihren Vorträgen und Beiträgen geprägt hat – das macht das Interessante an ihrer Person aus, aber auch eine gewisse Abwehr meinerseits. Vorrangig jedoch verstehe ich Persönlichkeit und Werdegang von Käthe Schirmacher als weiterhin lohnendes Untersuchungsobjekt zu Fragen des Denkstils und der gedachten Ordnungen im konservativen und völkischen – also kurz: dem nationalen – Lager. Die Widersprüche, die durch das frauenrechtlerische Agieren von Schirmacher sichtbar und innerhalb des nationalen Lagers verhandelt werden, zeigen typische Ambivalenzen moderner, europäischer Gesellschaftsentwicklungen auf. Hinsichtlich der Verankerung von Frauenrechten ist Käthe Schirmacher mit ihren Initiativen im nationalen Lager allerdings gescheitert – auch das gilt es wohl festzuhalten, will man Schirmacher und ihren Einfluss bewerten.

 


[1] Kirsten Heinsohn, Politik und Geschlecht. Zur Politischen Kultur bürgerlicher Frauenvereine in Hamburg 1871-1918, Hamburg 1997; „Man meint aber unter Menschenrechten nichts anderes als Männerrechte". Zur Geschichte der Hamburger Frauenbewegung und Frauenpolitik vom 19. Jahrhundert bis zur Neuen Hamburger Frauenbewegung Ende der 1960er Jahre. Teil 1 (bis 1945): Kirsten Heinsohn, Teil 2 (bis 1970): Rita Bake, Landeszentrale für politische Bildung 2012.

[2] Johanna Gehmacher, Reisende in Sachen Frauenbewegung. Käthe Schirmacher zwischen Internationalismus und nationaler Identifikation, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte November 60 (2011), 58-65.

[3] Heinsohn, Politik, 393, FN 204 und 430, FN 336.

[4] Denkstil und kollektiver Selbstentwurf im konservativ-völkischen Frauen-Milieu der Weimarer Republik, in: Rainer Hering/Rainer Nicolaysen, Hg., Lebendige Sozialgeschichte. Festschrift für Peter Borowsky, Opladen 2003, 189-205, hier 201.

[5] Johanna Gehmacher, De/Platzierungen – zwei Nationalistinnen in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Überlegungen zu Nationalität, Geschlecht und Auto/biographie, in: werkstatt geschichte 11/32 (2002): Ethnisierung, 6-30.

[6] So Anke Walzer, die die erste Biographie über Schirmacher schrieb: Käthe Schirmacher. Eine deutsche Frauenrechtlerin auf dem Wege vom Liberalismus zum konservativen Nationalismus, Pfaffenweiler 1991, 55-78; Wolfgang Gippert: „Ein kerndeutsches, nationalbewußtes, starkes Frauengeschlecht.“ Käthe Schirmachers Entwurf einer völkisch-nationalen Mädchen- und Frauenbildung, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, 53-54 (Juni 2008), 52-59.

[7] Walzer, 94.

[8] Käthe Schirmacher, Deutschland und Frankreich seit 35 Jahren. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, Berlin 1906.

[9] Liliane Crips: Comment passer du libéralisme au nationalisme völkisch, tout en restant féministe? Le cas exemplaire de Käthe Schirmacher (1865-1930), in: Marie-Claire Hoock-Demarle, Hg., Femmes, Nations, Europe, Paris 1995, 62-77.

[10] Am Beispiel der konservativen Frauengruppen wird dies besonders deutlich, vgl. Kirsten Heinsohn, Konservative Parteien in Deutschland 1912 bis 1933. Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive, Düsseldorf 2010, 48-67 und 109-138.

[11] Käthe Schirmacher, Was ist national? Vortrag gehalten auf dem 5. Ostdeutschen Frauentage in Culm, West-Preußen, Posen 1912, 8.

[12] Käthe Schirmacher, Völkische Frauenpflichten, Charlottenburg 1917, [o.S.] (3).


Zitierempfehlung:

Kirsten Heinsohn, Interesse und Abwehr: Forschungsfragen zu Käthe Schirmacher, in: Die vielen Biographien der Käthe Schirmacher – eine virtuelle Konferenz, URL: http://schirmacherproject.univie.ac.at/die-vielen-biographien-der-kaethe-schirmacher/statements/kirsten-heinsohn/

 

Readertext

Kirstin Heinsohn, Denkstil und kollektiver Selbstentwurf im konservativ-völkischen Frauenmilieu der Weimarer Republik, in: Rainer Hering/Rainer Nicolayson, Hg., Lebendige Sozialgeschichte. Gedenkschrift für Peter Borowsky, Wiesbaden 2003, 189-205.

// Verweise zu Publikationen der Statement-Autor_innen zu Käthe Schirmacher finden sich unter Literatur. //

Biographische Notiz

Kirsten Heinsohn, Historikerin, Associate Professor (Department of English, German and Romance Studies) University of Copenhagen. Publikationen u.a.: Konservative Parteien in Deutschland 1912 bis 1933. Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive, Düsseldorf 2010. Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute, hrsg. mit Knud Andresen und Linde Apel, Göttingen 2015. Germany 1916-23. A Revolution in Context, hrsg. mit Klaus Weinhauer und Anthony McElligott, Bielefeld 2015.