Gegen/hegemoniale Lebensentwürfe und Beziehungsformen

Käthe Schirmacher und Klara Schleker, 1916.

(Nl Sch 761/003)

Ich glaube, daß geschlechtliche Beziehungen zwischen Frauen nicht selten sind. Sie sind in den meisten Fällen (die Fälle von angeborener Homosexualität lasse ich bei Seite) aber anders zu beurteilen als der geschlechtliche Verkehr zwischen Männern.“
(Käthe Schirmacher, §175 des deutschen Strafgesetzes, in: Der Abolitionist, X. Jg., Nr. 1, 1.1.1911)

 

Mein Interesse an der Person Käthe Schirmacher beginnt mit der in der Literatur häufig wiedergegebenen Aussage, Schirmacher und ihre Freundin Klara Schleker seien das einzig offen lebende, lesbische Paar der ersten Frauenbewegung gewesen. Zwar liegt ein mehrere hundert Briefe umfassender Korrespondenzbestand des Paares vor, der eine Reihe relativ expliziter zärtlicher bis sexueller Referenzen enthält, doch lässt dieser Briefwechsel, wenn er von Schirmacher auch bewusst aufbewahrt wurde, noch keine Schlüsse über die Art und Weise der ‚Veröffentlichung‘ dieser Beziehung im Kontext der Frauenbewegung zu.

Veröffentlichte Texte Schirmachers, die das Thema Homosexualität aufgreifen, gibt es kaum - ihre in dieser Hinsicht geübte Zurückhaltung geht aber mit der weitgehenden Nicht-Auseinandersetzung mit weiblicher Homosexualität im Kontext der deutschen Frauenbewegung konform. Anfang 1911 wird zwar auch in der deutschen Frauenbewegung über die mögliche Ausweitung des § 175 auf Frauen diskutiert. Diese Auseinandersetzung findet jedoch in der Halböffentlichkeit von Briefwechseln statt, öffentliche Aussagen finden sich vermehrt in abolitionistischen Medien.

Die ambivalente Positionierung Schirmachers zu diesem Thema wirft Fragen nach dem Status verschiedener Beziehungsformen im Kontext der ersten Frauenbewegung auf. Anhand der vergleichenden Analyse veröffentlichter Texte wie Schirmachers Artikel zur Frage der Ausdehnung des § 175 auf Frauen (Anfang 1911) sowie des Briefwechsels mit Schleker, aber auch anhand der Aussagen anderer Korrespondenzpartnerinnen (die sie oft schwärmerisch verehrten), will ich versuchen, unterschiedliche Normsetzungen sowie Schirmachers individuellen Umgang mit diesen in verschiedenen (Bewegungs-)Öffentlichkeiten herauszuarbeiten. Als zentral stellt sich dabei die Frage heraus, in welchem gesellschaftlichen oder frauenbewegten Kontext welche Beziehungsformen als hegemonial galten; denn über die Analyse dieser Kontextbedingungen werden Äußerungen und Handlungen Schirmachers erst als non/konformistisch bzw. gegen/hegemonial lesbar und ein Verständnis der individuellen Ausdeutung von Rollenanforderungen möglich. (EH)