Fischzüge. Topografien und Selbstentwürfe eines Reiselebens

Käthe Schirmacher an der französischen Atlanktikküste bei den Vaches Noires in Villers-sur-Mer, Normandie, 1900

(Nl Sch 761/004a)

„Bei jedem festen Platz müsste ich auch meine Vortragsreisen aufgeben,
u. die sind doch ein angenehmer und ergiebiger Fischzug.“

(Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 24. 9. 1902)

Käthe Schirmacher war zeit ihres Lebens in Bewegung, unterwegs: Sie brach als junge Frau aus ihrer Heimatstadt Danzig zum Studium nach Paris und Zürich auf, reiste später für mehrere Monate nach Ägypten und nach Amerika und durchquerte schließlich Europa immer wieder auf ihren Vortragsreisen, die sie bis nach Moskau führten. Sie berichtete als Journalistin aus Paris in den unterschiedlichsten deutschsprachigen Zeitungen, nahm aber auch am französischsprachigen Journalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts teil. War sie vor dem Ersten Weltkrieg bei allen großen europäischen Frauenbewegungskongressen anwesend, so reiste sie als völkische Aktivistin an die deutschen Fronten des Ersten Weltkrieges und war nach dem Krieg als DNVP-Politikerin auf politischen Werbetouren unterwegs. Von vielen dieser Reisen sind unveröffentlichte und veröffentlichte Berichte erhalten, auch in ihren dichten Korrespondenzen mit Familienmitgliedern, der Lebenspartnerin Klara Schleker und den politischen WeggefährtInnen sind Stationen ihres Reiselebens, ihre Perspektiven auf die temporären Aufenthaltsorte, aber auch die unterschiedlichen Selbstentwürfe, die sie mit diesen Orten verband, dokumentiert. Ein Zugriff des Projekts wird es sein, die dabei sichtbar werdenden Topographien zu erkunden, die Motivationen und Legitimationen der die gesamte Biographie durchziehenden Lebenspraxis des Reisens zu untersuchen, nach ihrer möglichen Verflechtung mit wechselnden Produktionen einer öffentlichen Persona zu fragen und so Fragmente einer Reisebiographie zu entwerfen.

Wenn wir dies als nur eine unter mehreren möglichen Perspektiven auf Käthe Schirmachers Leben verstehen, so soll der Ausgangspunkt dafür die Auseinandersetzung mit den extensiven autobiographischen Praktiken der Protagonistin sein. Die Schichtungen und Ordnungen ihres umfangreichen Nachlasses (u.a. Korrespondenzen, Notizen, Tagebücher, Manuskripte, Presseberichte und Veröffentlichungen aus mehreren Jahrzehnten) interpretiere ich als Ergebnis ihrer kontinuierlichen Praxis des Selbstentwurfes, die in öffentlichen Selbstdarstellungen, Entwürfen von Alter Egos in literarischen Texten wie auch in wiederholten Neubewertungen des eigenen Lebensweges sichtbar wird. Besondere Aufmerksamkeit und theoretische Reflexion will ich dabei der paradoxen Zeitlichkeit des Biographischen widmen, die in den Verkreuzungen zwischen der in Selbstentwürfen adressierten zukünftigen Vergangenheit mit der im autobiographischen Rückblick sich manifestierenden vergangenen Zukunft ihren Ausdruck findet. (JG)